Ende 2019 kam noch einmal eine neue Dynamik in die Arbeit des Untersuchungsausschusses zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz. Ein leitender Polizist des LKA NRW warf einem BKA-Mitarbeiter vor, sich über 10 Monate vor dem Anschlag trotz Hinweisen aus Telefonüberwachungsmaßnahmen und Warnhinweisen eines V-Manns gegen die Übernahme des Falles ausgesprochen zu haben. Dabei habe der Mitarbeiter sich auf Anweisungen „von oben“ berufen. Diese nachher von mehreren Zeugen im Grunde als glaubwürdig bestätigte Aussage wirft ein ganz neues Licht auf die Rolle der Bundessicherheitsbehörden in der Causa Amri.
M., Beamter im Landeskriminalamt (LKA) NRW und Leiter einer Ermittlungskommission hat mit seiner Aussage Mitte November 2019 ein kleines „Beben“ im 1. Untersuchungsausschuss der 19. Wahlperiode ausgelöst: Ein Mitarbeiter des BKA habe ihm am Rande einer Besprechung beim Generalbundesanwalt (GBA) in einem Vieraugengespräch im Februar 2016 also circa zehn Monate vor dem Anschlag gesagt, dass man trotz valider Warnhinweise einer Quelle des LKA NRW („VP-01“), die über Anis Amris Anschlagsplanungen berichtet hatte, diesen keinen Glauben schenken und den Fall als BKA nicht übernehmen wolle. Auch sonst leitete man daraus keinen weiteren Handlungsbedarf im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ) für das BKA ab. Diese Linie im Umgang mit den Informationen des V-Manns sei von „ganz oben“ verordnet worden. Dabei konnte M. nicht sicher sagen, ob damit Führungskräfte des BKA oder gar des Bundesinnenministeriums konkret gemeint waren.
Der belastete BKA-Mitarbeiter bestritt diesen Vorwurf vehement in einer dienstlichen Erklärung, die er auf eigene Initiative im Nachgang zu einer Telefonschaltkonferenz mit den Spitzen des BMI verfasst haben will. Im Kreuzverhör vor dem Untersuchungsausschuss im Dezember 2019 gestand er jedoch ein, dass er heute ein Vieraugengespräch mit M. nicht ausschließen könne. Auch Staatsanwälte des GBA stützten die Aussage von M. in den folgenden Ausschusssitzungen. M. habe Ihnen damals, in engem zeitlichen Abstand zu der gegenständlichen Besprechung, von dem „Vieraugengespräch“ erzählt. Sie beschrieben M. als einen sehr integren, pflichtbewussten und glaubwürdigen Beamten. Sie sahen keinen Anlass, den Aussagen von M. zu bezweifeln. Es wird noch weitere Zeugen in diesem Komplex geben.
Fest steht aber schon jetzt: Bundessicherheitsbehörden hier vor allem das BKA waren nicht nur anders als zuvor offiziell dargestellt weit vor dem Anschlag tief in die Bearbeitung und Beurteilung der Causa Anis Amri involviert. Sie haben sogar aktiv daran mitgewirkt, dass die Weichen falsch gestellt wurden. Hätte das BKA den Fall im Februar 2016 an sich gezogen und eine konzertierte Aktion zur Beobachtung Amris gestartet, hätte es eine gute Chance gegeben, die Anschlagspläne Anis Amris rechtzeitig zu vereiteln. Diese Sichtweise wird auch durch die „VP-01“ selber gestützt, über die im März 2020 eine Reportage im SPIEGEL und ein Beitrag bei Spiegel-TV gebracht wurde (siehe Links unten). Der frühere V-Mann hat dort in einem Interview noch einmal bestätigt, wie „brandgefährlich“ Amri von ihm eingeschätzt wurde und wie nah dran er an Anis Amri gewesen ist. Er hatte sogar die Möglichkeit, ihm nach Berlin zu folgen, wo sich seit Mitte 2016 Amris Spur mehr und mehr verlor, weil er immer weniger auf dem Radar der Behörden war.
In den letzten Wochen haben wir uns dann intensiv mit dem unmittelbaren Tatgeschehen befasst. Und auch hier gibt es weiter große Ungereimtheiten. Ich hatte Euch bereits im letzten Newsletter von einem LKA-Einsatz vor der Fussilet-Moschee in der Tatnacht vom 19. auf den 20.12.2016 berichtet, der nirgends in den Akten protokolliert wurde, uns aber im Videostudium aufgefallen ist. Mittlerweile konnten wir an dieser Maßnahme beteiligte Polizisten vernehmen und die Fragezeichen bleiben bestehen. Es scheint sogar so gewesen zu sein, dass der Polizeieinsatz vor der Fussilet-Moschee die ganze Nacht andauerte. Wir fragen uns, warum es diesen nicht dokumentierten Einsatz gab, obwohl es zu diesem Zeitpunkt offiziell noch gar keine Hinweise auf einen möglichen Tatverdächtigen Anis Amri beziehungsweise auf eine andere Person aus dem Umfeld der Fussilet Moschee gegeben haben soll. Haben Mitarbeiter der Polizei vielleicht doch bereits am Abend des Anschlags Hinweise darauf erhalten, dass Anis Amri oder vielleicht auch eine andere Person aus der Fussilet-Moschee als Attentäter infrage kommt? Dafür spricht auch, dass der Pegida-Gründer Lutz Bachmann bereits am Tatabend mit angeblichem Geheimwissen protzend twitterte, bei dem Attentäter handele es sich um einen tunesischen Moslem, zu einem Zeitpunkt, als die Polizei offiziell noch nach einer Person aus Pakistan gefahndet hat.
Auch die Tatortarbeit selber untersuchen wir vor dem Hintergrund dieser Fragestellung. In den letzten Sitzungen des Untersuchungsausschusses haben wir Polizisten befragt, die bereits sehr früh am Tatort waren. Eine systematische Durchsuchung des LKW nach Hinweisen und Spuren auf den möglichen Fahrer und Täter fand nicht statt. Jedoch mehren sich die Hinweise darauf, dass die Fahrerkabine von mehreren Personen und Polizeibeamten betreten wurde und wir wollen unbedingt klären, ob Mitarbeiter der Polizei die Fahrerkabine näher in Augenschein genommen haben. Denn es ist höchst merkwürdig, warum das Portemonnaie mit dem Ausweisdokument von Anis Amri erst am Nachmittag des Tages nach dem Anschlag in der Fahrerkabine des LKW gefunden wurde und warum nicht bereits sofort nach dem Anschlag der LKW auf fahndungsrelevante Hinweise auf den Täter hin durchsucht wurde.
Eine weitere interessante Frage wird die nächsten Sitzungen prägen, nämlich die nach dem tatsächlichen Tatbeitrag von Anis Amri und dessen möglichen Mittätern. Wir haben ja schon herausgestellt, dass BKA und GBA das Umfeld Anis Amris allenfalls halbherzig bei den Ermittlungen berücksichtigt und durchleuchtet haben. Das halten wir für fahrlässig und sehr gefährlich, weil dadurch potentielle Attentäter sich weiterhin unbehelligt auf freiem Fuß befinden können. Nun stellen sich auch zu Anis Amris Rolle am Tatgeschehen weitere, bisher ungeklärte Fragen: Warum läuft Amri nach dem Anschlag sehr ruhig und ohne sichtbare Beeinträchtigungen im Zuge des Aufpralls durch die U-Bahn-Unterführung entgegen der eigentlichen Fluchtrichtung? Auf einem sichergestellten Überwachungsvideo kann man erkennen, dass Amri zudem etwas aus seiner Tasche zieht, was wie ein Handy aussieht, obwohl es doch heißt, Amri habe auf der Flucht kein Handy mit sich geführt. Warum ist man dem nicht näher nachgegangen, denn ein weiteres Handy würde möglicherweise neue Informationen zu Tat, Mittätern und zur Flucht Amris liefern. Der zu diesem Themenkomplex vernommene Beamte räumte ein, dass das mutmaßlich gezückte Handy genau wie die scheinbare Unversehrtheit Amris eine Rolle in den Gedanken der Ermittler spielte. Jedoch ist dem erkennbar nicht nachgegangen worden. Überhaupt fehlt bis heute ein zusammenfassender Vermerk des BKA über die am Tatort gefundenen und gesicherten Spuren, sowie über die späteren Auswertungsergebnisse dazu und deren Zuordnung zu konkreten Personen sowie ein Vermerk über die unterschiedlichen Stränge der Tatermittlungen, was nicht nur unsere Arbeit erschwert sondern die jeder einzelnen Ermittler*in, die/der einen Teilbereich des Geschehens untersucht. Ich verspreche Euch: Auch die kommenden Sitzungen bleiben spannend und wir bleiben dran und lassen nicht locker. Unten findet Ihr einige Links von Berichten aus den letzten Monaten zu den hier angerissenen Themen.
Generell auf dem Laufenden hält Euch der Podcast: https://uapod.berlin/
Reden zur Sicherheitsarchitektur
Pressespiegel
Halbzeitbilanz der Bundestagsfraktion
Staatsanwalt berichtet über Konflikt mit Bundeskriminalamt | Bundestag.de
Spiegel TV
https://www.youtube.com/watch?v=qL9h6TwRBWU
Dieser Beitrag ist ursprünglich im Newsletter vom April 2020 erschienen