Erste Parlamentarische Geschäftsführerin | Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Antrag: Für aussagekräftige Dunkelfeld-Opferbefragungen

Drucksache 19/5894
Antrag der Abgeordneten Dr. Irene Mihalic, Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg, Canan Bayram, Britta Haßelmann, Katja Keul, Monika Lazar, Filiz Polat, Tabea Rößner, Dr. Manuela Rottmann und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Gesetzgeber, Wissenschaft und Praxis benötigen differenzierte, valide, methodisch saubere und aussagekräftige Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken. Eine wichtige Grundlage sind dabei die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Zu den weiteren notwendigen Quellen gehören jedoch auch Dunkelfeld-Opferbefragungen. Der Beschluss der Innenministerkonferenz zur „Verstetigung eines bundesweiten Viktimisierungssurveys“ vom 12.07.2017 ist daher im Grundsatz zu begrüßen. Die im Beschluss der Innenministerkonferenz festgelegten Rahmenbedingungen für Dunkelfeld- Opferbefragungen reichen jedoch nicht aus, das nötige Maß an Aussagekraft und Wissenschaftlichkeit entsprechender Befragungen sicherzustellen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,

darauf hinzuwirken, dass neben der Beachtung methodisch-wissenschaftlicher Standards der Umfrageforschung und dem notwendigen Schutz von Persönlichkeitsrechten der Befragten bei der Durchführung der Dunkelfeld-Opferbefragungen insbesondere die folgenden Grundsätze Beachtung finden:

Relevante Häufigkeitsveränderungen bei seltenen oder mittelhäufigen Delikten lassen sich erst bei einer hinreichend großen Strichprobe feststellen. Dunkelfeld- Opferbefragungen sollten aber in der Regel Änderungen der Häufigkeit wenigstens für häufige Delikte, wie persönliche Eigentums- und Vermögensdelikte, auch in der Größenordnung von 10 % aufzeigen.
Eine bundesweite Vergleichbarkeit der Ergebnisse durchgeführter Befragungen ist im Sinne von deren Auswertung wichtig, erfordert in der Regel aber eine zent- ral durchgeführte, jedenfalls aber einheitliche Stichprobenziehung (einschließlich der Aufbereitung der Adressdaten).
Der Modus einer kontinuierlichen Befragung (face to face) über einen längeren Zeitraum, wie er bei dem „Crime Survey“ in England und Wales praktiziert wird, erlaubt gleichzeitig eine hohe Stichprobengröße und die Durchführung mündlicher Befragungen ohne Internet oder Telefon.

Die Befragungen sollten von unabhängiger Seite durchgeführt werden. Stellen, die dem Legalitätsprinzip unterliegen, sollen grundsätzlich nicht die Befragungen durchführen, da dies die Erhebung belastbarer Daten beeinträchtigt und die Aus- wertungsmöglichkeiten erheblich einschränkt. Sofern besondere Risiken der De-Anonymisierung von Befragungsdaten bestehen, soll auch die Auswertung der Rohdaten von unabhängiger Seite unter der Beachtung sämtlicher datenschutzrechtlichen Vorgaben erfolgen.
Auch Aussagen zu den Gründen für eine Anzeige beziehungsweise Nichtanzeige von Delikten, zur Schadensart, sowie zur Wahrnehmung und Bewertung polizeilicher und justizieller Reaktionen, zu Kriminalitätsfurcht und zum Strafbedürfnis sollten soweit möglich bei allen durchgeführten Befragungen erfasst werden.
Wissenschaft und Forschung sollten in Form eines wissenschaftlichen Beirats bei der Planung und Auswertung der Befragungen beteiligt werden, um sicherzustel- len, dass wissenschaftliche Standards und neuere Erkenntnisse der Grundlagenforschung hinreichende Beachtung finden. Durch ein rechtskonformes Forschungsdatenmanagement sollte die Nachnutzung der Befragungsdaten durch unabhängige Wissenschaftler ermöglicht werden.
Eine zu erwartende niedrigere Teilnahmebereitschaft bzw. geringere Erreichbarkeit einzelner Bevölkerungsgruppen soll durch geeignete Maßnahmen ausgeglichen werden. Auch soll die Durchführung der Interviews in verschiedenen Sprachen angeboten werden.
Wiederholungsbefragungen in einem zweijährigen Turnus sind in vielen europäischen und außereuropäischen Staaten üblich und entsprechen den Forderungen der Wissenschaft. Dabei bietet insbesondere die wiederholte Befragung von Zielpersonen (Panelstudie) wichtige Analysevorteile.
Berlin, den 19. November 2018

Begründung

Um wirksame Konzepte zur Kriminalitätsbekämpfung entwickeln zu können, braucht die Politik eine verlässliche, in regelmäßigen Abständen aktualisierte Bestandsaufnahme der Kriminalitätslage, die über die bloße Analyse der Kriminalstatistik und der Strafverfolgungsstatistiken hinausgeht (so schon der Zweite Periodische Sicherheitsbericht, 2006, vgl. Bundestagsdrucksache 19/2000). Auch der zwischen CDU, CSU und SPD für die 19. Legislaturperiode geschlossene Koalitionsvertrag betont die Bedeutung von Dunkelfeldstudien (vgl. Zeile 6313). Dem ist insofern zuzustimmen, als dass Dunkelfeldstudien auch einen wesentlichen Beitrag zur Bewertung der Behörden mit Blick auf die polizeiliche und justizielle Arbeit liefern können. Tatsächlich tut die Bundesregierung jedoch zu wenig, um die empirische Forschung in diesem Bereich zu fördern. Insbesondere genügt der Beschluss der Innenministerkonferenz zur „Verstetigung eines bundesweiten Viktimisierungssurveys“ vom 12.07.2017 nicht, eine hohe Aussagekraft entsprechender Befragungen sicherzustellen. Vielmehr ist zu befürchten, dass ak- tuelle oder zukünftige Befragungen in ihrer Validität und Belastbarkeit sogar hinter früheren Untersuchungen zurückbleiben könnten.

Der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD) hat in seiner aktuellen Stellungnahme zum Konzept der Bund-Länder-Projektgruppe „Verstetigung einer bundesweiten Dunkelfeld-Opferbefragung“ zahlreiche Empfehlungen abgegeben, deren Beachtung gerade vor dem Hintergrund der beabsichtigten Neuauflage des Periodischen Sicherheitsberichts (vgl. Bundestagsdrucksache 19/2000) gegenwärtig große Relevanz zukommt.

Aktuelle Dunkelfeld-Opferbefragungen müssen sich an den methodisch-wissenschaftlichen Standards der Um- frageforschung orientieren. Dazu ist eine hinreichende Finanzierung erforderlich. Nicht zuletzt wegen des Legalitätsprinzips sollten außerdem die Träger der Befragung keine Polizeibehörden sein.

Insbesondere macht die Stellungnahme des RatSWD aber deutlich, dass Häufigkeitsveränderungen selbst bei häufigen Delikten wie persönlichen Eigentumsdelikten in einer Größenordnung von 10 % erst ab einer Stichprobengröße von über 34.000 Befragten festgestellt werden können. Bei mittelhäufigen Delikten wie Körperverletzungen können Häufigkeitsveränderungen in der Größenordnung von 10 % sogar erst ab einer Stichprobengröße von über 100.000 Befragten ermittelt werden. Hinter diesen Vorgaben bleibt der Beschluss der Innenministerkonferenz zur „Verstetigung eines bundesweiten Viktimisierungssurveys“ vom 12.07.2017 deutlich zurück.

Auch lassen sich Kriminalitätsentwicklungen und das Anzeigeverhalten grundsätzlich erst durch wiederholte, standardisierte Befragungen, deren Ergebnisse miteinander vergleichbar sind, beleuchten (vgl. Bundestagsdrucksache 19/2000, Seite 7 zu § 3). Auch hierzu wurden bisher keine verbindlichen Festlegungen getroffen.

Mit Blick auf das Ziel einer baldigen Neuauflage des Periodischen Sicherheitsberichts ist daher notwendig, jetzt die Grundlagen dafür zu schaffen, damit im Rahmen der Analyse später auf entsprechend aussagekräftige Daten zurückgegriffen werden kann.
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