Erste Parlamentarische Geschäftsführerin | Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

„Auch ich wurde eingebürgert.“ Rede in Aktueller Stunde zum Staatsbürgerschaftsrecht

Auszug aus der Niederschrift vom 01.12.2022

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist allerhöchste Zeit, dass Deutschland ein neues, modernes Staatsbürgerschaftsrecht bekommt, ein Staatsbürgerschaftsrecht, das Menschen eine bessere und verbindlichere Integrationsperspektive eröffnet, den demographischen Erfordernissen Rechnung trägt und auch gut für unsere Wirtschaft ist. Wir haben einen strukturellen Fachkräftemangel, der unseren Wohlstand und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bedroht. All das müssen wir dringend angehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Die Welt verändert sich, aber die Merz-Union – das konnten wir in den Beiträgen gerade wieder eindrucksvoll hören – irrlichtert irgendwo zwischen Identitätspolitik, Vorurteilen und zündelnden Narrativen hin und her. Damit schaden Sie dem Image Deutschlands ganz massiv. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Sie schaden Deutschland!)

Da wird der deutschen Pass als „Ramschware“ bezeichnet, vor einem Black Friday wird gewarnt, und Sie, lieber Thorsten Frei, haben zwar nicht in Ihrer Rede eben, aber in einem Interview im ZDF gesagt, die deutsche Staatsbürgerschaft dürfe nicht – ich zitiere – „ohne weitere Leistung“ verliehen werden. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Julia Klöckner (CDU/CSU): Das ist doch gut! Was ist daran falsch?)

Nun, Herr Frei: Was war eigentlich genau Ihre Leistung, die Sie zum deutschen Staatsbürger befähigt hat? 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Das mag sich für Sie vollkommen absurd anhören, aber die gleiche Frage stellen Sie in diesen Debatten Menschen, die genau wie Sie hier geboren und aufgewachsen sind. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie merken es vielleicht selber: Bei Staatsbürgerschaft geht es nicht um Leistung. Es geht um bestimmte Voraussetzungen – ja, das ist richtig; Mahmut Özdemir hat gerade eindrucksvoll dargestellt, wohin die Reise gehen soll -, und vor allem geht es um die Möglichkeit, gleichberechtigt zum Erfolg unseres Gemeinwesens beizutragen, und in diesem Geist werden wir das Staatsbürgerschaftsrecht novellieren. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Wir führen diese Debatten, wer dazugehört und wer nicht, schon seit Jahrzehnten, und es ist, ehrlich gesagt, unerträglich, dass Menschen, die keinen deutschen Pass haben, sich hier ständig beweisen und erklären müssen,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD und des Abg. Stephan Thomae (FDP))

oder dass Menschen mit zwei Staatsangehörigkeiten die Loyalität zu unserem Land abgesprochen wird.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Auch die Union war in ihrer Integrationspolitik schon einmal weiter. Auch Sie haben etliche Leute in Ihren eigenen Reihen, die eingebürgert wurden.

(Lamya Kaddor (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wo sind die eigentlich?) 

Man fragt sich, wo die heute eigentlich alle sind. 

(Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schämen Sie sich!)

Wahrscheinlich ertragen sie es nicht, Ihnen hier zuzuhören.

(Zuruf des Abg. Alexander Hoffmann (CDU/CSU))

Jetzt führen Sie die Debatte im Stil der 90er-Jahre, wie bei Koch und Kanther. Wie erklären Sie das eigentlich Ihren eigenen Leuten?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Daran merkt man einfach, dass Sie nach 16 Jahren Angela Merkel noch gar keine Ahnung haben, wohin Ihre Reise eigentlich gehen soll. Da ist es natürlich sehr bequem für Sie, mit einer ordentlichen Portion Populismus Ihre eigene Orientierungslosigkeit zu überdecken. 

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist so billig!)

Genau deshalb bin ich sehr gespannt, was Sie morgen bei der Abstimmung machen werden, wenn es um das Chancen-Aufenthaltsrecht geht. 

(Konstantin Kuhle (FDP): Kommt darauf an, wen man fragt!)

Da können Sie ja mal zeigen, ob Sie auf die Wirtschaft hören und den dauerhaften Aufenthalt von dringend gebrauchten Fachkräften ermöglichen wollen oder ob Sie lieber, so wie in dieser Debatte, rechts abbiegen. 

(Andrea Lindholz (CDU/CSU): Das glaube ich jetzt nicht! Als ob das Chancen-Aufenthaltsrecht das Fachkräfteproblem in Deutschland löst! Völliger Unsinn!)

Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden hier dauernd über amtliche Dokumente; aber dabei geht es um Menschen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Es sind Menschen mit ihren persönlichen Biografien, mit ihren Familien, mit ihren individuellen Plänen, ihr Leben zu gestalten. Herr Merz hat gestern im „Morgenmagazin“ gesagt, dass die, die wir hier haben wollen, leider nicht kommen. Tja, da kann man sich ja mal fragen, woran das liegt. Herr Frei hat sich ja eben auch darüber beklagt, dass die Debatte hier keinen guten Ton hat. Das teile ich ausdrücklich. Wenn diese Menschen mitbekommen, wie hier die Debatte geführt wird, und Worte wie „Ramschware“ hören, dann ist das ein Schlag ins Gesicht, 

(Beatrix von Storch (AfD): Die freuen sich doch über die „Ramschware“!)

dann fühlen sie sich hier schlicht und ergreifend unerwünscht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich mache das jetzt mal ganz persönlich: Auch ich wurde eingebürgert, als junger Mensch am 3. Oktober im Jahr 1983, als Kind von Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien, die in den 60er-Jahren nach Deutschland gekommen sind und hier ihr Leben lang gearbeitet haben. Wenn mein Vater, der als Rohrschlosser angestellt war, am Abend in die Kneipe gehen wollte, war er sehr vertraut damit, wenn es hieß: Gastarbeiter sind hier unerwünscht. – Genau genommen war er noch nicht einmal Gastarbeiter, sondern er hatte ein ganz anderes Anstellungsverhältnis. Aber das spielt hier gar keine Rolle; denn es geht um das, was dahintersteckt. Wenn ich heute an seine Erzählungen zurückdenke, dann versetzt mir das immer noch einen Stich ins Herz. 

Es muss endlich Schluss sein damit, Begriffe zu verwenden, die auf verletzende Weise andere Menschen diskriminieren, nur weil sie eben nicht seit Generationen hier in Deutschland leben. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP – Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Dann schaffen wir das Staatsangehörigkeitsrecht völlig ab!)

Da Sie von der Union immer so gerne über Leistung sprechen: Ich wünsche mir, dass Sie explizit mal die Lebensleistung gerade der älteren Generation würdigen, die wesentlich dazu beitragen hat, unser Land nach der dunkelsten Zeit unserer Geschichte wieder aufzubauen. Die diskriminierende Denkweise sollten wir mit einem neuen Staatsbürgerschaftsrecht endlich hinter uns lassen. Deutschland ist ein Einwanderungsland, und es wird Zeit, dass das Recht dieser Tatsache Rechnung trägt.

Ganz herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Reden im Bundestag
Pressespiegel
Pressemitteilungen