Konsequenzen aus den Erkenntnissen des NSUUntersuchungsausschusses
Antrag der Abgeordneten Irene Mihalic, Hans-Christian Ströbele, Monika Lazar, Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), Katja Keul, Renate Künast, Özcan Mutlu, Dr. Konstantin von Notz, Cem Özdemir und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Der Untersuchungsausschuss „Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund“ hat in der 17. Wahlperiode wichtige Feststellungen und Bewertungen getroffen. Vorbehaltlich einer weitergehenden Klärung stellen die gemeinsamen Schlussfolgerungen und Empfehlungen einen fraktionsübergreifenden Minimalkonsens dar, der nun zügig und konsequent umgesetzt werden muss.
Für die dringend nötige wirksame Bekämpfung des Rechtsextremismus auf allen Ebenen reicht das aber nicht aus. Das hat die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bereits in ihrem Sondervotum zum NSUUntersuchungsausschuss zum Ausdruck gebracht. Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und für Demokratieförderung auf allen Ebenen. Jede Bagatellisierung von Rechtsextremismus, Rassismus und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit muss ein Ende haben.
Der NSU-Untersuchungsausschuss hat sich sehr intensiv und eingehend mit der Arbeits- und Funktionsweise der Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste der Bundesrepublik Deutschland befasst. Er hat ein beispielloses Versagen der Sicherheitsbehörden bei der Beobachtung und Verfolgung des Nazi-Trios und seines Unterstützerumfeldes sowie bei der Aufklärung der NSU-Verbrechen festgestellt; mit tödlichen Konsequenzen für die Opfer des NSU und unerträglichen Folgen für deren oft im Nachhinein noch zu Unrecht verdächtigten Familien und unser aller Vertrauen in den Rechtsstaat. Obwohl die gemeinsamen Schlussfolgerungen des NSU-Untersuchungsausschusses dringenden Reformbedarf im Umgang mit Opfern und ihren Hinterbliebenen aufzeigen, ist es bisher noch nicht einmal gelungen, das Ausmaß von Verdächtigung und Bespitzelung der Opferfamilien vollständig aufzuklären und die Verantwortlichen in vielen Fällen zu einem Wort der Entschuldigung und des Bedauerns gegenüber den Betroffenen zu bewegen.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. Zäsur und Neustart bei den Geheimdiensten zu vollziehen, insbesondere – das Bundesamt für Verfassungsschutz in seiner derzeitigen Form aufzulösen und eine Inlandsaufklärung mit auf das Wesentliche reduzierten Aufgaben und Befugnissen, neuem Personal sowie starken und effektiven internen und externen Kontrollstrukturen neu zu gründen; die neue Inlandsaufklärung soll nur für die Aufklärung genau bestimmter Bestrebungen mit tatsächlichem Gewaltbezug zuständig sein;
– die Beobachtungs- und Analyseaufgaben des bisherigen Bundesamtes für Verfassungsschutz einem unabhängigen „Institut zur Analyse demokratie- und menschenfeindlicher Bestrebungen“ zu übertragen, das ohne hoheitliche Befugnisse und ohne Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel wissenschaftlich arbeitet;
– die interne und externe Kontrolle der Nachrichtendienste entschieden zu verbessern und es willkommen zu heißen wenn Parlamente wirksamere, lückenlose und Bund-Länder-übergreifende Kontrollstrukturen und -kompetenzen der Parlamentarischen Kontrollgremien bzw. -ausschüsse, der G10-Kommissionen schaffen;
– die Unabhängigkeit der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit zu stärken und ihre Kontrollkompetenzen im Bereich der Geheimdienste zu erweitern;
– den Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder über rechtsextreme Straftäter bei gleichzeitiger Gewährleistung eines hohen Datenschutzniveaus und unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Grenzen des Trennungsgebotes zu verbessern;
– den Einsatz von V-Leuten in der rechten Szene, der sich als desaströs, nutzlos und kontraproduktiv erwiesen hat, zu beenden und den Einsatz von V-Leuten im Übrigen einer unabhängigen wissenschaftlichen Evaluierung zu unterziehen;
2. Konzepte für eine neue Polizeikultur vorzulegen und insbesondere folgende Maßnahmen umzusetzen:
– Gründung einer unabhängigen Polizeibeschwerdestelle auf gesetzlicher Grundlage; diese soll u.a. Beschwerden über Polizeigewalt und rassistisch motivierte Fehlermittlungen oder Untätigkeit prüfen, Betroffene (Opfer) bei der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützen und Anlaufstelle für Polizistinnen und Polizisten sein, die dort Kritik an Ermittlungen und Vorgesetzten o.ä. vorbringen können;
– Einführung einer zumindest anonymisierten Kennzeichnung für alle Bundespolizistinnen und –polizisten und entsprechendes Einwirken auf die Innenministerinnen und Innenminister der Bundesländer bezüglich deren Regelungen zu Kennzeichnung von Polizistinnen und Polizisten;
– eine unabhängige, empirische Untersuchung zu Vorurteilen und Diskriminierungsstrukturen innerhalb der deutschen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zu veranlassen und die Sensibilität und Kompetenz von Bediensteten von Polizeien und Geheimdiensten im Umgang mit Rechtsextremismus und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, u.a. durch neue Konzepte der Personalwerbung und -auswahl und durch Bildungsmaßnahmen, zu erhöhen; in der polizeilichen Aus- und Fortbildung verstärkt Bildungsmodule zu Menschenrechten bzw. zur interkulturellen, geschlechtersensiblen und fehleranalytischen Kompetenzen anzubieten und diskriminierendes polizeiliches Handeln (sog. ethnic profiling) auf allen Ebenen bekämpfen;
– Schaffung von Strukturen für eine bessere Lagebilderstellung und Strafverfolgung; das beinhaltet eine systematischere Erfassung rechter Gewalttaten unter Einbeziehung der Justiz und zivilgesellschaftlicher Opferberatungsstellen. Außerdem soll die Sensibilität und Kompetenz der Bediensteten von Polizeien und Geheimdiensten insgesamt, auch geschlechterreflektiert, im Umgang mit Rechtsextremismus und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit durch geeignete Maßnahmen erhöht werden – sinnvoll wäre hier ein Schwerpunkt im Bereich der behördlichen Wahrnehmung, Einordnung und Bearbeitung sog. Hassdelikte;
– Verbesserung der Möglichkeiten zur parlamentarischen Kontrolle auch der Polizei – insbesondere des polizeilichen Staatsschutzes – sowie des Zugangs des Deutschen Bundestages zu [diesbezüglichen] Unterlagen der Innenministerkonferenz;
– Etablierung eines strukturierten Dialoges zwischen Polizei und zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Rechtsextremismus in Zusammenarbeit mit den Ländern; 3. die zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Rechts nachhaltig zu fördern und zu stärken, das heißt unter anderem:
– Aufstockung der Bundesmittel auf der Grundlage eines verbesserten Konzepts auf jährlich mindestens 50 Mio. € mittels einer dauerhaften, kontinuierlichen Förderung durch eine Zuwendungsstiftung „Stiftung zur Förderung der Demokratie und gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“;
– dabei gilt es, gezielt eine nachhaltige lokale Verankerung von Strukturen wie mobilen Beratungsteams, bundesweiten spezifischen Opferberatungsstellen und geschlechtersensiblen Ausstiegsprojekten zu unterstützen und zu fördern;
– die derzeitige Praxis, nach der ausgerechnet von Demokratie-Initiativen für eine Bundesförderung in diskriminierender Weise ein gesondertes Bekenntnis zur Verfassung für sich und ihre Kooperationspartner verlangt wird, muss endlich beendet werden. Dabei ist es unerheblich, ob dies wie bisher durch eine Verpflichtung zur Unterzeichnung der „Extremismusklausel“ oder in anderer Form durchgesetzt wird.
Berlin, den 11. März 2014
Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion
Begründung
Polizei und Verfassungsschutz sind in ihren Ermittlungen allzu oft Hinweisen auf einen rechtsextremen Tathintergrund nicht nachgegangen. Gründe dafür waren bürokratische Ignoranz, gravierende strukturelle Mängel, Blindheit auf dem rechten Auge und in Teilen institutioneller Rassismus bzw. institutionelle gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, aber auch individuelles Versagen, Inkompetenz, Konkurrenzdenken, und von Vorurteilen geleitetes Handeln. Das Personal der Sicherheitsbehörden hat immer wieder große Fehler gemacht und Vorabfassung – wird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode -4- Drucksache 18/776 sich zum Teil falsch verhalten. Aufgrund dieses eklatanten und dramatischen Versagens bedarf es auch eines personellen Neustarts bei Polizei, Justiz und Geheimdiensten. Vor allem soll durch die unter 2. geforderten Maßnahmen sichergestellt werden, dass gerade im Bereich Aufklärung mutmaßlich rechtsextremistisch motivierter Straftaten nur hinreichend qualifizierte und für diesen Bereich spezialisierte Beamtinnen und Beamten eingesetzt werden. Das war bei denen, die in diesem Bereich so eklatant versagt haben nicht der Fall. Wir setzen auf solide Polizeiarbeit und gut ausgebildete PolizeibeamtInnen, statt auf immer neue Datenbanken. Die strukturelle Aufarbeitung dieses Versagens ist nun Aufgabe nicht nur der Behörden selbst, sondern auch des deutschen Bundestages und der Bundesregierung. Jetzt müssen klare Konsequenzen gezogen werden: Für die Behebung struktureller Mängel brauchen wir entschiedene Reformen bei den Sicherheitsbehörden, eine bessere Qualifizierung ihres Personals sowie eine effektive Bekämpfung des Rechtsextremismus auf allen Ebenen.