Erste Parlamentarische Geschäftsführerin | Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rede zum neuen NSU-Untersuchungsausschuss

Irene Mihalic im Plenum des Bundestages

Aus dem Protokoll vom 11. November 2015:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Pau hat vorhin darauf hingewiesen: Heute vor genau vier Jahren fand im Bundesamt für Verfassungsschutz die sogenannte Aktion Konfetti statt, also die massenhafte Vernichtung von Akten über VLeute aus dem näheren Umfeld des NSU-Trios. Diese Schredderaktion steht seitdem als Sinnbild für die – ich will es einmal so sagen – zweifelhafte Rolle des Verfassungsschutzes im Zusammenhang mit der gesamten Entwicklung des Rechtsterrorismus in den letzten Jahrzehnten.

In der Aufarbeitung dieser Rolle liegt für uns Grüne auch ein wesentlicher Schlüssel zur Aufklärung im NSU-Komplex. Leider aber haben wir in den letzten Jahren feststellen müssen, dass das Bundesamt bei der Aufarbeitung keine große Hilfe war. Der Kollege Binninger hat in seiner Rede darauf hingewiesen, was wir im Innenausschuss alles aufzuklären versucht haben, wo wir regelmäßig vor eine Wand gelaufen sind. Es wurde viel unter dem Deckel gehalten. Es wurde verschleiert. Da ist es meiner Ansicht nach blanker Hohn, wenn Herr Maaßen immer wieder erklärt, sein Amt habe keine Fehler gemacht und sogar verloren gegangenes Vertrauen wiederhergestellt. Da fragen wir uns doch: Wodurch denn bitte?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Weil alle, die gesamte Gesellschaft – für den Hinweis bin ich dankbar -, Verantwortung für das Nichterkennen des NSU tragen, gerade deshalb darf sich niemand aus dieser Verantwortung stehlen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD und der Abg. Petra Pau (DIE LINKE))

Natürlich ist der Verfassungsschutz eine Behörde, die im Geheimen operieren muss. Aber es kann ja nicht sein, dass sich die Arbeit des Verfassungsschutzes jeglicher Nachvollziehbarkeit entzieht; denn die Gesellschaft hat ein Recht darauf, die Arbeit des Verfassungsschutzes auf Faktengrundlage zu bewerten, und darum wird es auch in diesem Untersuchungsausschuss gehen. Wir bestehen darauf, zu wissen, welchen Nutzen die Gesellschaft durch den massiven V-Leute-Einsatz in der rechtsextremen Szene hatte. Wir bestehen darauf, zu erfahren, welchen Erkenntnisgewinn der Einsatz staatlich geförderter Neonazis tatsächlich gebracht hat. Wir bestehen darauf, zu erfahren, ob wir der rechtsextremen Szene durch den V-Leute-Einsatz nicht am Ende sogar noch Strukturhilfe gegeben haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Beantwortung dieser Fragen ist kein reiner Akt der Vergangenheitsbewältigung, sondern hochaktuell; Frau Högl, Frau Pau, auch Sie haben darauf hingewiesen. Wir erleben heute, wie Flüchtlinge und Unterkünfte sowie engagierte Bürgerinnen und Bürger brutal angegriffen werden. Wenn es immer heißt, dass es nie wieder so schlimm werden darf wie Anfang der 1990er-Jahre, dann sage ich: Wir sind mit über 600 Angriffen in diesem Jahr schon weit darüber hinaus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Damals, in den 90er-Jahren, begann sich der NSU zu formieren. Heute sind wir schon wieder schlecht vorbereitet auf rechtsextreme Anschläge. Heute sind wir schon wieder nicht in der Lage, die Hintergründe genügend auszuleuchten. Schon wieder laufen wir Gefahr, zu übersehen, dass sich hier rechtsterroristische Netzwerke etablieren.

Wenn es heißt, dass nur 34 Prozent der Tatverdächtigen bekannte Rechtsextremisten sind, und den anderen 66 Prozent wenig Bedeutung beigemessen wird, dann mache ich persönlich mir sehr große Sorgen mit Blick auf die Analysefähigkeit unserer Sicherheitsbehörden. Wenn in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern ganze Banden von Nazis losziehen und Flüchtlinge zusammenschlagen, dann muss es doch Planungen im Vorfeld gegeben haben. Die haben sich doch nicht zufällig auf der Straße getroffen. Das Problem ist: Wir wissen davon nichts, und das zeigt, dass der Verfassungsschutz nicht darauf eingestellt ist, die heute viel fluideren Organisationsmuster in der rechtsextremen Szene ausreichend zu erkennen. Diese Dinge müssen wir im Untersuchungsausschuss gründlich aufarbeiten, um sie nachhaltig abstellen zu können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Clemens Binninger (CDU/CSU))

Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Januar dieses Jahres waren wir alle tief betroffen von den schrecklichen Terroranschlägen in Paris. Wir waren uns sofort einig, dass diese Anschläge auch ein Angriff auf unsere freiheitlichen und demokratischen Grundwerte waren. Das haben in spontanen Kundgebungen Millionen von Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft mit dem berühmt gewordenen Spruch „Je suis Charlie“ zum Ausdruck gebracht. Dies sollte klarmachen: Wenn ihr im Sinne eurer todbringenden Ideologie auch nur Einzelne von uns angreift, dann greift ihr uns alle als Gesellschaft an.

Genau diese Grundhaltung bewegt uns heute, wenn wir in fraktionsübergreifender Einigkeit erneut einen Untersuchungsausschuss zum NSU-Terror einsetzen. Wir sagen damit als Parlament ganz klar: Auch wenn überwiegend Menschen mit Migrationshintergrund unter den Opfern waren – die Taten der Rechtsterroristen sind im Kern auch ein Angriff auf uns als gesamte Gesellschaft, und wir werden parlamentarisch alle Möglichkeiten der Aufklärung nutzen, um dem Terror von rechts entschlossen entgegenzutreten.

Herzlichen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Pressespiegel

Die beklemmende Aktualität der NSU (Deutsche Welle)